Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerde gegen die Beiziehung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsakten im Zivilprozess nicht zur Entscheidung angenommen

Pressemitteilung Nr. 32/2014 vom 3. April 2014

Beschluss vom 06. März 2014
1 BvR 3541/13

Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbeschwerden mehrerer Unternehmen eines früheren Kartells europäischer Aufzugshersteller nicht zur Entscheidung angenommen. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Beiziehung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsakten, die u. a. vertrauliche Informationen aus dem Kartellverfahren enthalten, in einem Schadensersatzprozess gegen die Beschwerdeführerinnen. Die Auslegung der maßgeblichen straf- und zivilprozessualen Vorschriften durch das Oberlandesgericht Hamm ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Danach hat die um Akteneinsicht ersuchte Staatsanwaltschaft vorliegend nur eine abstrakte Zuständigkeitsprüfung vorzunehmen. Das um Akteneinsicht ersuchende Landgericht entscheidet über die Verwertung der beigezogenen Akten auf Grundlage einer Abwägung, die auch den Grundrechten der Beschwerdeführerinnen hinreichend Rechnung tragen muss.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerinnen gehörten zu einem Kartell europäischer Aufzughersteller. Im Kartellverfahren stellten die Beschwerdeführerinnen sogenannte "Kronzeugenanträge" bei der Europäischen Kommission, zum Teil auch sogenannte "Bonusanträge" beim Bundeskartellamt. Darin legten sie - in der Hoffnung auf die hierfür zugesicherten milderen Sanktionen - unter Mitteilung von geschäftlichen Interna die Strukturen des Kartells offen. Der Verstoß gegen die Europäischen Wettbewerbsregeln ist inzwischen rechtskräftig festgestellt. Das Bundeskartellamt gab die Verfolgung der handelnden natürlichen Personen an die Staatsanwaltschaft ab. So gelangte die Kopie eines von mehreren Beschwerdeführerinnen gestellten Antrages nach der Bonusregelung zu den staatsanwaltlichen Akten. Im Rahmen ihrer Ermittlungen erhielt die Staatsanwaltschaft vom Konzern, zu dem einige der Beschwerdeführerinnen gehören, auch eine Kopie der vertraulichen Fassung des Bußgeldbescheides der Europäischen Kommission.

Im Dezember 2010 erhoben verschiedene Bauunternehmen vor dem Landgericht Berlin Klage gegen die Beschwerdeführerinnen, um Ansprüche auf Ersatz kartellbedingten Schadens geltend zu machen. Das Landgericht Berlin beschloss, die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Düsseldorf beizuziehen. Die Staatsanwaltschaft teilte den Beschwerdeführerinnen mit, die beantragte Akteneinsicht gewähren zu wollen. Dagegen wandten sich die Beschwerdeführerinnen jeweils mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Das Oberlandesgericht Hamm verwarf diese Anträge als unbegründet.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an, weil die aufgeworfenen Fragen in grundsätzlicher Hinsicht geklärt und die Verfassungsbeschwerden nach diesen Maßstäben unbegründet sind. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen aus Art. 12 Abs. 1 GG vor.

1. Das Oberlandesgericht hat die maßgeblichen Vorschriften der Straf- und Zivilprozessordnung so ausgelegt, dass die Staatsanwaltschaft bei gerichtlichen Ersuchen um Akteneinsicht im Regelfall nur eine abstrakte Zuständigkeitsprüfung durchführt. Weder die Berufung der Beschwerdeführerinnen auf eine drohende Verletzung des Schutzes von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen und der informationellen Selbstbestimmung noch die Tatsache, dass die Ermittlungsakten Informationen aus Kronzeugenanträgen und der vertraulichen Kommissionentscheidung enthalten, hätten der Staatsanwaltschaft besonderen Anlass zu einer weitergehenden Prüfung der Zulässigkeit der Übermittlung geben müssen. Das um Akteneinsicht ersuchende Landgericht trage die Verantwortung für die Zulässigkeit der Übermittlung. Es werde nach Erhalt der Akten eine Abwägung der betroffenen Interessen der Beschwerdeführerinnen und der Schadensersatzklägerinnen durchzuführen haben, bevor es Einsicht in die Ermittlungsakten gewähre.

2. Diese Auslegung der straf- und zivilprozessualen Vorschriften ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Eingriff in den Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse aus Art. 12 Abs. 1 GG durch die Gewährung von Akteneinsicht ist im vorliegenden Fall nicht unverhältnismäßig.

a) Dem Zusammenspiel der Straf- und Zivilprozessordnung liegt nach der nachvollziehbaren Auslegung des Oberlandesgerichts das Konzept zu Grunde, dass das um Akteneinsicht ersuchende Gericht unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen der Beschwerdeführerinnen abwägt und so prüft, ob Informationen aus den angeforderten Ermittlungsakten im Zivilverfahren verwertet - und damit zu anderen Zwecken verwendet - werden können. Dies entspricht dem "Doppeltürmodell" (vgl. BVerfGE 130, 151), das als Leitbild für den Datenaustausch zur staatlichen Aufgabenwahrnehmung jeweils eigene Rechtsgrundlagen für die korrespondierenden Eingriffe verlangt. Die Vorschriften der Strafprozessordnung sind Grundlage für die Übermittlung, die Zivilprozessordnung bietet die Grundlage für das Ersuchen und die weitere Verwendung im Zivilprozess.

b) Nach der Auslegung dieser Vorschriften durch das Oberlandesgericht - die auch der Rechtsansicht des ersuchenden Gerichts entspricht - kann das Landgericht die übermittelten Akten nur nach Maßgabe einer Abwägung verwerten; im Rahmen dieser Abwägung kann und muss den Grundrechten der Beschwerdeführerinnen hinreichend Rechnung getragen werden. Diese Abwägung muss die jeweiligen Vor- und Nachteile bei der Verwirklichung der verschiedenen betroffenen Rechtsgüter in ihrer Gesamtheit einbeziehen. Überträgt der Gesetzgeber die Bewältigung des Rechtsgüterkonflikts wie hier der gerichtlichen Abwägung, ohne Kriterien hierfür vorzugeben, muss die Darstellung der die Abwägung leitenden Gesichtspunkte in der gerichtlichen Entscheidung einen wesentlichen Beitrag zur Konkretisierung des Abwägungsprogramms, zur Rationalisierung des Abwägungsvorgangs und zur Sicherung der Richtigkeit des Abwägungsergebnisses leisten.

Dass die zivilprozessualen Überlegungen des Oberlandesgerichts offensichtlich falsch wären und das Landgericht daher keine Abwägung durchführen könnte, ist entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerinnen nicht ersichtlich. Im Zivilprozessrecht ist anerkannt, dass die Prozessparteien kein unbedingtes Recht auf Einsicht in die beigezogenen Akten anderer Behörden haben. Beschränkt die übersendende Behörde die Einsicht der Prozessparteien in die übersandte Akte teilweise oder ganz, hat dies zur Konsequenz, dass der Teil der übersandten Akte, in die keine Einsicht gewährt werden kann, im Zivilprozess wegen Art. 103 Abs. 1 GG auch nicht verwertet werden kann. Die Vorgabe des Oberlandesgerichts an das Landgericht, vor hier möglicher Gewährung von Akteneinsicht an die Klägerinnen des Schadensersatzprozesses eine Abwägung durchführen zu müssen, zwingt daher zu der einfachrechtlich ermöglichten Berücksichtigung aller grundrechtlich relevanten Belange.