Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen versammlungsrechtliche Auflage

Pressemitteilung Nr. 06/2013 vom 25. Januar 2013

Beschluss vom 20. Dezember 2012
1 BvR 2794/10

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für den Rechtsschutz gegen versammlungsrechtliche Maßnahmen bekräftigt. Bereits im Eilverfahren müssen die Verwaltungsgerichte eine vollständige - und nicht nur summarische - Überprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durchführen. Sofern dies im Einzelfall aus Zeitgründen nicht möglich ist, haben sie jedenfalls eine sorgfältige und hinreichend begründete Folgenabwägung vorzunehmen. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen hielten diesen Maßstäben nicht stand.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen zugrunde:

1. Die Beschwerdeführer meldeten für den 16. Oktober 2010 von 12.00 bis 20.00 Uhr eine Versammlung in der Innenstadt von L. an. Diese sollte aus drei Aufzügen und einer Abschlusskundgebung mit geschätzt 600 Teilnehmern bestehen. Das Motto "Recht auf Zukunft" bezog sich auf eine frühere Versammlung, die einer der Beschwerdeführer - eine Unterorganisation der NPD - am 17. Oktober 2009 in L. veranstaltet hatte. Damals war es im Zusammenhang mit einer Blockade durch Gegendemonstranten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen. Letztlich hatte die Polizei die Versammlung aufgelöst.

Die Polizeidirektion L. bekundete in einer Gefährdungsanalyse vom 4. Oktober 2010, dass der Schutz von zwei Aufzügen mit den verfügbaren Einsatzkräften gewährleistet werden könne. Einer der Beschwerdeführer teilte am 11. Oktober 2010 mit, dass nur noch ein Aufzug stattfinden solle. Am 12. Oktober 2010 ergänzte die Polizeidirektion L. ihre Gefahrprognose insofern, dass lediglich eine maximal vierstündige stationäre Kundgebung durchführbar sei. Nach den Erfahrungen vom 17. Oktober 2009 sei mit einer höheren als der angemeldeten Teilnehmerzahl zu rechnen. Zudem seien jeweils ca. 10 bis 20 % der Teilnehmer der angemeldeten Demonstration und der Gegendemonstrationen als gewaltbereit einzustufen. Nur 29 der für erforderlich gehaltenen 44 Polizeihundertschaften stünden zur Verfügung.

Am 13. Oktober 2010 untersagte die Stadt L. die Durchführung der Versammlung als Aufzug, verfügte die Durchführung als stationäre Kundgebung in der Zeit von 13.00 bis 17.00 Uhr in einem Bereich am Hauptbahnhof und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Auflage an.

2. Am gleichen Tag legten die Beschwerdeführer hiergegen Widerspruch ein und wandten sich zugleich im Eilrechtsschutzverfahren an das Verwaltungsgericht. Dieses lehnte die Eilanträge mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 ab. Das Oberverwaltungsgericht wies die hiergegen gerichtete Beschwerde am gleichen Tage zurück. Vor dem Bundesverfassungsgericht blieb ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - aufgrund der besonderen Voraussetzungen für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes - erfolglos. Jedoch hat die Kammer auf die Möglichkeit hingewiesen, die aufgeworfenen Fragen in einem verfassungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren zu klären (Beschluss vom 16. Oktober 2010 - 1 BvQ 39/10 -, juris).

3. Die daraufhin erhobene Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 (Versammlungsfreiheit) in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG (Recht auf effektiven Rechtsschutz).

a) Beschränkungen der Versammlungsfreiheit bedürfen gemäß Art. 8 Abs. 2 GG zu ihrer Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage. Nach § 15 des Versammlungsgesetzes kann die zuständige Behörde die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Als Grundlage der Gefahrprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich. Hierfür liegt die Darlegungs- und Beweislast grundsätzlich bei der Behörde. Maßnahmen sind primär gegen die Störer zu richten. Gegen eine friedliche Versammlung selbst kann nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden.

b) Die Verwaltungsgerichte müssen zum Schutz von Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlass bezogen sind, schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt. Soweit möglich ist als Grundlage der gebotenen Interessenabwägung die Rechtmäßigkeit der Maßnahme in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht nur summarisch zu prüfen. Sofern dies nicht möglich ist, haben die Fachgerichte jedenfalls eine sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese hinreichend substantiiert zu begründen.

4. Diese Maßstäbe haben das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht nicht hinreichend berücksichtigt.

a) Das Verwaltungsgericht legt bereits nicht hinreichend deutlich dar, ob seiner Auffassung nach auch von der Versammlung selbst eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht oder ob diese Gefahr ausschließlich aufgrund der zahlreichen Gegendemonstrationen und den hieraus zu erwartenden Störungen der Versammlung besteht. Auch die tatsächlichen Feststellungen im Hinblick auf einen etwaigen polizeilichen Notstand entsprechen nicht den Anforderungen an die intensivere Rechtmäßigkeitsprüfung, die bereits im Eilverfahren geboten ist. Die kurzfristige Änderung der polizeilichen Gefährdungsanalyse, die sich nicht ohne weiteres erschließt, hätte das Verwaltungsgericht veranlassen müssen, substantiierter zu prüfen und eine genauere Begründung zu verlangen. Es hätte auch dezidierterer Feststellungen bedurft, aufgrund welcher konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit und aufgrund welcher konkreter vorrangig zu schützender sonstiger Veranstaltungen keine ausreichenden Polizeikräfte mehr zum Schutz der angemeldeten Versammlung und der Rechtsgüter Dritter zur Verfügung gestanden hätten.

b) Das Oberverwaltungsgericht hat zwar deutliche Bedenken gegen das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes und gegen die kurzfristige Änderung der polizeilichen Gefährdungsanalyse geäußert. Auch erscheint es nachvollziehbar, dass dem Oberverwaltungsgericht die hier grundsätzlich gebotene Rechtmäßigkeitskontrolle der behördlichen Auflage in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr möglich war. Allerdings hätte es dem Oberverwaltungsgericht in dieser Konstellation, um der Freiheitsvermutung zugunsten der Versammlungsfreiheit zumindest in der Sache Rechnung zu tragen, oblegen, eine besonders sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese in der Begründung seiner Entscheidung hinreichend offenzulegen.