Bundesverfassungsgericht

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Antrag im Organstreit "Beteiligungsrechte des Bundestages/EFSF" überwiegend erfolgreich

Pressemitteilung Nr. 14/2012 vom 28. Februar 2012

Urteil vom 28. Februar 2012
2 BvE 8/11

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem heute verkündeten Urteil den Antrag zweier Bundestagsabgeordneter gegen die im Zusammenhang mit der Erweiterung der Kompetenzen der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) neu geregelte Übertragung von Beteiligungsrechten des Deutschen Bundestages auf ein Sondergremium für überwiegend begründet erachtet.

Über den Sachverhalt informiert die Pressemitteilung Nr. 71/2011 vom 11. November 2011. Sie kann auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts eingesehen werden.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Regelung des § 3 Abs. 3 Stabilisierungsmechanismusgesetz (StabMechG), wonach die Entscheidungsbefugnisse des Deutschen Bundestages hinsichtlich der (erweiterten) Maßnahmen der EFSF in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit von einem aus Mitgliedern des Haushaltsausschusses gewählten Gremium ausgeübt werden, die Antragsteller in ihren Abgeordnetenrechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist die Regelung des § 3 Abs. 3 StabMechG nur insoweit, als sie dem Sondergremium Entscheidungskompetenzen für den Fall des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EFSF am sog. Sekundärmarkt verleiht.

Die ebenfalls angegriffene Vorschrift des § 5 Abs. 7 StabMechG, die in Fällen besonderer Vertraulichkeit eine Beschränkung der Unterrichtungsrechte des Bundestages auf die Mitglieder des Sondergremiums vorsieht, verletzt die Antragsteller dagegen bei verfassungskonformer Auslegung nicht in ihren Abgeordnetenrechten. Danach muss die Bundesregierung den Deutschen Bundestag unverzüglich unterrichten, sobald die Gründe für eine besondere, eine Befassung des Sondergremiums rechtfertigende Vertraulichkeit fortgefallen sind.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

I. Prüfungsmaßstab

Der Deutsche Bundestag erfüllt seine Repräsentationsfunktion grundsätzlich in seiner Gesamtheit durch die Mitwirkung aller seiner Mitglieder, nicht durch einzelne Abgeordnete, eine Gruppe von Abgeordneten oder die parlamentarische Mehrheit. Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages werden grundsätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassung im Plenum wahrgenommen. Diese Grundsätze gelten auch in einem System intergouvernementalen Regierens im Hinblick auf Gewährleistungsermächtigungen für internationale und europäische Verbindlichkeiten. Ausgangspunkt und Grundlage für die Ausgestaltung und Beschränkung der Abgeordnetenrechte ist das Prinzip der Beteiligung aller Abgeordneten an den Entscheidungen des Deutschen Bundestages. Der in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Grundsatz der repräsentativen Demokratie gewährleistet für jeden Abgeordneten die Gleichheit im Status als Vertreter des ganzen Volkes. Differenzierungen in Bezug auf den Abgeordnetenstatus bedürfen daher zu ihrer Rechtfertigung eines besonderen Grundes, der durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht ist, das der Gleichheit der Abgeordneten die Waage halten kann. Soweit Abgeordnete durch Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf einen beschließenden Ausschuss von der Mitwirkung an der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung ausgeschlossen werden sollen, ist dies nur zum Schutz anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang und unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig. Zur Vermeidung unverhältnismäßiger Beeinträchtigungen von Statusrechten der Abgeordneten muss auch der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit gewahrt sein. Daraus folgt, dass jeder Ausschuss ein verkleinertes Abbild des Plenums sein und in seiner Ausgestaltung die Zusammensetzung des Plenums in seiner politischen Gewichtung widerspiegeln muss. Überdies dürfen die Informations- und Unterrichtungsmöglichkeiten für die nicht im Ausschuss vertretenen Abgeordneten nicht über das unabdingbar notwendige Maß hinaus beschränkt werden.

II. Subsumtion

Nach diesen Maßstäben ist der Antrag weitgehend begründet.

1. § 3 Abs. 3 StabMechG verletzt die Antragsteller in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, soweit das Sondergremium nicht nur mit der Frage des Ankaufs von Staatsanleihen, die die EFSF am Sekundärmarkt tätigt, befasst werden soll. Die Regelung schließt die nicht im Sondergremium vertretenen Abgeordneten von wesentlichen, die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages berührenden Entscheidungen in vollem Umfang aus und bewirkt dadurch eine Ungleichbehandlung hinsichtlich der aus dem Abgeordnetenstatus folgenden Mitwirkungsbefugnisse im Rahmen der parlamentarischen Arbeit.

a) Die Einrichtung eines Untergremiums zur selbständigen und plenarersetzenden Wahrnehmung von Aufgaben des Bundestages unterfällt dem Selbstorganisationsrecht des Parlaments, dem insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt. Der Ausschluss der in einem solchen Untergremium nicht vertretenen Abgeordneten lässt sich grundsätzlich mit an der Funktionsfähigkeit des Parlaments orientierten Gründen rechtfertigen. Der Grundsatz der Funktionsfähigkeit des Bundestages genießt Verfassungsrang und kann es daher prinzipiell rechtfertigen, dass der Bundestag in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit Vorkehrungen für ein zügiges Handeln und gegen das Bekanntwerden geplanter Maßnahmen trifft, wenn ansonsten eine sachangemessene parlamentsinterne Entscheidungsfindung nicht gewährleistet ist.

b) Bei der Beschränkung der Statusrechte der Abgeordneten ist jedoch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ein angemessener Ausgleich zwischen den Statusrechten der Abgeordneten einerseits und der damit kollidierenden Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages andererseits sicherzustellen. Diesen Anforderungen wird die Einrichtung des in § 3 Abs. 3 StabMechG vorgesehenen Sondergremiums weder unter dem Gesichtspunkt der besonderen Eilbedürftigkeit noch demjenigen der Vertraulichkeit gerecht.

Mit Gründen der besonderen Eilbedürftigkeit kann die weitgehende Delegation von Befugnissen des Bundestages auf das Sondergremium für keine der im Maßnahmenkatalog der EFSF aufgeführten Notmaßnahmen gerechtfertigt werden. Denn es sind weder im Gesetzgebungsverfahren noch im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Gründe erkennbar geworden, deretwegen ein "kleinstmögliches" Untergremium notwendig wäre, um besonders rasch zusammentreten zu können. Der geringere Verwaltungsaufwand für die Ladung von nur neun Mitgliedern des Gremiums reicht hierzu nicht aus. Gegen eine Eilbedürftigkeit spricht auch, dass für die Mitglieder des Sondergremiums keine Stellvertreter vorgesehen sind und daher bereits die Verhinderung weniger Mitglieder zu seiner Beschlussunfähigkeit führen könnte. Zudem sind für sämtliche Maßnahmen der EFSF umfangreiche vorbereitende Handlungen und Ausführungsmaßnahmen durch den ersuchenden Staat und die EFSF erforderlich.

Aus Gründen der besonderen Vertraulichkeit ist die Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf das Sondergremium nur für einen Teil der im Maßnahmenkatalog der EFSF aufgeführten Notmaßnahmen gerechtfertigt.

Sie ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, soweit über den Ankauf von Staatsanleihen durch die EFSF auf dem Sekundärmarkt beraten und beschlossen werden muss. Da ein Bekanntwerden auch nur der Planung einer solchen Notmaßnahme geeignet wäre, den Erfolg derselben zu vereiteln, ist davon auszugehen, dass die Vorbereitung einer solchen Notmaßnahme, also auch deren Beratung und ein diesbezüglicher Zustimmungsbeschluss, absoluter Vertraulichkeit unterliegen müssen.

Dagegen ist die in § 3 Abs. 3 StabMechG enthaltene Regelung, wonach bei Notmaßnahmen zur Verhinderung von Ansteckungsgefahren "regelmäßig" besondere Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit vorliegt, nicht mit den sich aus dem Abgeordnetenstatus ergebenden Rechten vereinbar. Die Regelvermutung verfehlt die Beschränkung der Delegationsmöglichkeit auf eng begrenzte Ausnahmefälle und wird daher den Anforderungen an einen schonenden Ausgleich zwischen dem in der Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages angesiedelten Geheimschutzinteresse und den damit kollidierenden Statusrechten der Abgeordneten nicht gerecht. Die Beschränkung der Statusrechte der Abgeordneten wird dadurch zusätzlich verschärft, dass das Plenum keine effektive Möglichkeit hat, das Eingreifen der Regelvermutung im Vorfeld zu überprüfen und die zu entscheidende Angelegenheit wieder an sich zu ziehen.

c) Bei verfassungskonformer Auslegung nicht zu beanstanden ist dagegen, dass § 3 Abs. 3 StabMechG die spiegelbildliche Zusammensetzung des Sondergremiums nicht ausdrücklich anordnet. Denn dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit kann durch eine verfassungskonforme Auslegung Rechnung getragen werden. § 3 Abs. 3 StabMechG muss deshalb so ausgelegt werden, dass auch das Sondergremium ein verkleinertes Abbild des Plenums darstellt und die Stärke der im Plenum vertretenen Fraktionen möglichst getreu widerspiegelt. Zwar hat der Deutsche Bundestag bei der Wahl der Mitglieder des Sondergremiums am 26. Oktober 2011 gegen diese Anforderungen verstoßen. Dies führt jedoch nicht zur Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschrift selbst.

2. Die Regelung in § 5 Abs. 7 StabMechG, die die Möglichkeit einer Übertragung der Unterrichtungsrechte des Bundestages auf das Sondergremium in Fällen besonderer Vertraulichkeit vorsieht, verletzt die Antragsteller nicht in ihren Abgeordnetenrechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Allerdings dürfen die Informationsrechte der Abgeordneten - auch in zeitlicher Hinsicht - nur im unbedingt erforderlichen Ausmaß im Interesse der Funktionsfähigkeit des Parlaments zurückgesetzt werden. Die Bestimmung ist daher so auszulegen, dass die Unterrichtungsrechte des Plenums nur so lange suspendiert sind, wie die Gründe für die besondere Vertraulichkeit bestehen; nach Fortfall dieser Gründe muss die Bundesregierung den Deutschen Bundestag von sich aus unverzüglich über die Befassung des Sondergremiums und die sie rechtfertigenden Gründe unterrichten.