Bundesverfassungsgericht

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Haftbefehl wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 83/2010 vom 23. September 2010

Beschluss vom 24. August 2010
2 BvR 1113/10

Der Beschwerdeführer befand sich seit Mitte Juni 2005 wegen des Verdachts des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Untersuchungshaft. Am 31. Oktober 2005 begann die Hauptverhandlung vor dem Landgericht. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Fortdauer der Untersuchungshaft nahm das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 19. September 2007 nicht zur Entscheidung an, wies aber darauf hin, dass das Landgericht künftig vermehrt verhandeln müsse, um dem Beschleunigungsgebot Rechnung zu tragen; monatlich durchschnittlich an acht Tagen ganztägig zu verhandeln, sei nicht unzumutbar. Ende Mai 2008 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer nach 88 Hauptverhandlungstagen wegen drei der insgesamt 14 angeklagten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und ordnete an, dass davon ein Jahr und zehn Monate wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. Hinsichtlich der übrigen 11 Tatvorwürfe wurde das Verfahren wegen der insoweit zu erwartenden umfangreichen Beweisaufnahme und angesichts der Geschäftsbelastung der Kammer mit Beschluss vom gleichen Tag abgetrennt und ausgesetzt. Nachdem der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen hatte, hob das Landgericht den Haftbefehl Ende August 2009 auf, weil die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig sei. Der Beschwerdeführer wurde am gleichen Tag aus der Haft entlassen. Nach Ver-bindung des abgetrennten Verfahrens wurde für den 18. Dezember 2009 erneut ein Hauptver-handlungstermin anberaumt, zu dem der Beschwerdeführer, der mittlerweile aufgrund einer Abschie-beanordnung nach Albanien ausgereist war, nicht erschien. Das Landgericht erließ daraufhin einen erneuten Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer, gestützt auf sämtliche angeklagten 14 Tatvorwürfe. Das Oberlandesgericht verwarf die hiergegen eingelegte Haftbeschwerde.

Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und die angegriffenen Haftentscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts aufgehoben, weil sie den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht und seinem Recht auf ein faires Strafverfahren verletzen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht lassen bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des weiteren Vollzugs der Untersuchungshaft die gebotene Abwägung mit dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers erkennen. Das in dem Grundrecht auf persönliche Freiheit verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen hat zur Folge, dass die Untersuchungshaft zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung grundsätzlich nicht mehr als notwendig erachtet werden kann, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare und nicht von dem Beschuldigten zu vertretende Verfahrensverzögerungen verursacht ist.

Die Gerichte haben sich hinsichtlich der erneuten Anordnung der Untersuchungshaft mit der hier vor-liegenden Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht auseinandergesetzt. Das Verfahren ist nach Beginn der Hauptverhandlung trotz des Hinweises des Bundesverfassungsgerichts zur Anzahl der monatlichen Verhandlungstage ersichtlich zu wenig gefördert worden. Während der über zweieinhalb Jahre dauernden Hauptverhandlung wurde durchschnittlich weniger als an einem Tag pro Woche verhandelt, ohne dass stichhaltige Rechtfertigungsgründe ersichtlich sind. Das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot in Haftsachen fordert aber stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als nur einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche. Zudem trat in Bezug auf die 11 noch nicht abgeurteilten Taten jedenfalls 15 Monate lang, nämlich von der Abtrennung dieses Verfahrens Anfang Juni 2008 bis zum Beginn der erneuten Planung des gesamten Verfahrens Ende August 2009, ein völliger Verfahrensstillstand ein, während dessen der Beschwerdeführer sich weiterhin in Untersuchungshaft befand.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der bereits erlittenen Untersuchungshaft von über vier Jahren und zwei Monaten hat das Landgericht beim Neuerlass des Haftbefehls dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers nicht genügend Gewicht beigemessen. Die erneute Anordnung der Untersuchungshaft rechtfertigt sich nicht durch die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und das Gewicht der 11 noch nicht abgeurteilten Taten bzw. die aus beidem folgende Höhe der zu erwartenden Gesamtstrafe. Das Beschleunigungsgebot verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils, sondern gilt für das gesamte Strafverfahren. Allein die Schwere der Taten und die sich daraus ergebende Straferwartung können jedenfalls bei erheblichen vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur weiteren Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden.