Bundesverfassungsgericht
- 1 BvR 630/93 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Dr. B...
gegen | § 295 Abs. 1 SGB V in
der Fassung des Gesetzes zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S. 2266), |
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Seidl,
den Richter Grimm
und die Richterin Haas
am 11. September 1996 einstimmig beschlossen:
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde und der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung betreffen die gesetzliche Verpflichtung der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und ärztlich geleiteten Einrichtungen zur Angabe der Diagnose in den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für die Krankenkassen und in den Abrechnungsunterlagen für die vertragsärztlichen Leistungen.
I.
Der Beschwerdeführer ist als Arzt für Neurologie und Psychiatrie niedergelassen und zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Zugleich ist er bei einer Ersatzkasse krankenversichert. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet er sich unmittelbar gegen § 295 Abs. 1 SGB V mit dem Antrag, die Vorschrift für nichtig zu erklären. Mit dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung begehrt er, den Vollzug des Gesetzes vorläufig auszusetzen. Er rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und aus Art. 12 GG.
Mit der angegriffenen gesetzlichen Regelung habe sich eine völlig neue Dimension der Offenbarung von Diagnosen ergeben. Ohne deren Schutz könne die Volksgesundheit in ihrer Gesamtheit Schaden nehmen. Er selbst sei sowohl als Patient wie auch als Vertragsarzt von der geänderten Fassung des § 295 Abs. 1 SGB V betroffen. Durch die Verpflichtung der ihn behandelnden Ärzte zur Angabe der ihn betreffenden Diagnosen werde sein Recht auf Achtung der Privatsphäre in einem nicht hinnehmbaren Umfang im intimsten Bereich aufgehoben. Der über seine Diagnosen informierte Personenkreis werde unübersehbar. Als Arzt befürchte er, daß sich Patienten keiner ärztlichen Behandlung mehr anvertrauten oder sich im Rahmen einer Behandlung nicht mehr hinreichend mitteilten.
Für die Diagnoseangaben auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Abrechnungsunterlagen sei kein gesetzlicher Verwendungszweck bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht habe eine nicht anonymisierte Datensammlung auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken als verfassungswidrig eingestuft. Die in §§ 284 und 285 SGB V geregelten Zwecke seien zu weit gefaßt, als daß aus ihnen eine Grenze für die Zulässigkeit der Datenverarbeitung erkennbar werde. § 69 Abs. 1 Nr. 1 SGB X erlaube es außerdem, Daten unabhängig von ihrem Erhebungszweck weiterzugeben, wenn sie für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe nach dem SGB benötigt würden. Habe die Diagnose erst einmal den unmittelbaren Behandlungsbereich des Arztes verlassen, sei sie praktisch allen am Sozialsystem Beteiligten zugänglich.
Die Kenntnis der Diagnose zur Überprüfung von ärztlichen Abrechnungen sei zur Erreichung ihres Zwecks ungeeignet. Die vorgesehene Verschlüsselung nach dem ICD-10 lasse sich in der Praxis nicht umsetzen. Diagnosen stünden erst am Ende von medizinischen Untersuchungen und erst nach Abschluß von Differentialdiagnosen fest. Plausibilitätskontrollen würden erst dann durchführbar, wenn alle Differentialdiagnosen mit anzugeben seien. Es gebe kaum medizinische Untersuchungen, die sich unter Heranziehung einer Differentialdiagnose nicht rechtfertigen ließen. Versehentliche Falschabrechnungen könnten auch ohne Diagnose aufgedeckt werden. Betrugsabrechnungen ließen sich nicht durch Diagnoseangaben aufdecken, wenn zu willkürlich falschen Abrechungsziffern passende Diagnosen hinzuerfunden würden.
Die Verpflichtung zur Angabe und die Kenntnis der Diagnose sei zur Erreichung des Gesetzeszwecks auch nicht erforderlich. Da das Gesamthonorar für alle Vertragsärzte "gedeckelt" sei, könnten jedenfalls die Krankenkassen kein legitimes Interesse an der Aufdeckung von Fehlabrechnungen in Anspruch nehmen. Im Falle der Arbeitsunfähigkeit könne die Entscheidung, ob die gleiche Krankheit über mehrere Arbeitsunfähigkeitszeiträume vorliege, durch einen der behandelnden Vertragsärzte geklärt werden. Für die Kontrolle der Plausibilität der Abrechnung sei die Kenntnis der Diagnose ebenfalls nicht erforderlich. Jedenfalls für sein nervenärztliches Fachgebiet lasse sich nachweisen, daß sie allein anhand der abgerechneten Leistungsziffern nachprüfbar sei. Es gebe außerdem konfliktfreiere Regelungsmechanismen zur Überprüfung von ärztlichen Abrechnungen, zum Beispiel die Einbeziehung der Patienten, wie sie auch bei Privatversicherten gängige Praxis sei.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung diene der Abwehr eines unmittelbar drohenden Nachteils. Er leide zur Zeit an einer akuten Krankheit. Der für die notwendigen Rezepte erforderliche Arztkontakt habe eine Abrechnung mit zwingender Angabe der Diagnose zur Folge. Die durch die Verpflichtung zur Angabe der Diagnose entstehenden Nachteile seien nicht nur für ihn, sondern auch für unzählige Mitbürger relevant. Die Aussetzung des Vollzugs des angegriffenen Gesetzes habe keine weitreichenden Folgen. Es werde lediglich der Zustand wiederhergestellt, wie er vor Inkrafttreten des gerügten Gesetzes, also vor dem 1. Januar 1993, bestanden habe.
II.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber unbegründet. Die inhaltlichen Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG sind nicht gegeben.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, sind die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde nur insoweit relevant, als diese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes angeführt werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Das Bundesverfassungsgericht muß die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 86, 390 <395>; 87, 334 <338>; 93, 181 <186 f.>; stRspr).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
2. Daher hängt die Begründetheit des Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung von der Folgenbeurteilung und -abwägung ab. Die im Falle der Ablehnung einer einstweiligen Anordnung zu erwartenden Nachteile müssen "schwere Nachteile" im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG sein und gegenüber den Nachteilen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde aber keinen Erfolg hätte, überwiegen. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG vorliegen, ist ein strenger Maßstab anzulegen. Das gilt in besonderem Maße, wenn der Vollzug eines Gesetzes vorläufig ausgesetzt werden soll (BVerfGE 81, 53 <54>; 82, 310 <313>; 82, 353 <363>; 83, 162 <171>; 86, 390 <395>; 93, 181 <186>; stRspr).
a) Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht und würde sich die Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren als begründet erweisen, hätte der Beschwerdeführer bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache Diagnosen der von ihm behandelten Patienten anzugeben und die ihn betreffenden Diagnosen würden von den ihn behandelnden Ärzten entsprechend der angegriffenen gesetzlichen Bestimmung mitgeteilt. Das gilt für die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und ärztlich geleiteten Einrichtungen und die in diesem Rahmen behandelten Patienten generell. Solange der ICD-10 überarbeitet wird, kann die Angabe der Diagnose sanktionslos wie bislang in Klarschrift erfolgen, ist also nicht an eine fest vorgegebene Codierung gebunden. Die Diagnose würde über das Arzt-Patienten-Verhältnis hinaus bekannt und nach Maßgabe der gesetzlich zugelassenen Verwendungszwecke sowie im Rahmen der vorgesehenen Schutzvorkehrungen gespeichert, genutzt und gegebenenfalls übermittelt. Dies wäre irreversibel. Möglicherweise würde die Unbefangenheit der Kommunikation zwischen Arzt und Patienten beeinträchtigt. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers bedeuteten diese Folgen aber keine weitergehende Belastung als die, die bereits nach dem bis zum Inkrafttreten der angegriffenen Bestimmung bestehenden Rechtszustand, wie ihn die Rechtsprechung konkretisiert hat, bestanden hat. Denn das Bundessozialgericht hat die Pflicht zur Angabe der Diagnose bereits den Vorläuferregelungen der §§ 294, 295 Abs. 1 Nr. 1 SGB V a.F. (Urteil vom 4. Mai 1994, NZS 1995, S. 92 ff.) und auch schon den diesen vorangehenden Bestimmungen (BSGE 55, 150 <152 ff.>; 59, 172 <174 ff.>) entnommen.
b) Erginge die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet, wäre die Diagnose auf dem für die Krankenkasse bestimmten Vordruck der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und in den Abrechnungsunterlagen bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache nicht mehr angegeben worden. Dadurch würde die Erfüllung der den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen zugewiesenen Aufgaben, die mit den gesetzlich festgelegten Verwendungszwecken (vgl. insbesondere §§ 284, 285 SGB V) in Bezug genommen werden, beeinträchtigt. Den Krankenkassen würde - jedenfalls im gegebenen Regelungssystem - etwa die im Rahmen der Gewährung von Krankengeld gegebenenfalls erforderliche Prüfung, ob dieselbe Krankheit vorliegt, ebenso unmöglich gemacht wie eine den bestehenden Bestimmungen entsprechende Beteiligung des Medizinischen Dienstes. Die Kassenärztlichen Vereinigungen könnten im Rahmen der ihnen obliegenden Prüfung der Ordnungsmäßigkeit und der Kontrolle der Plausibilität der Abrechnungen die Abrechnungsunterlagen nicht mehr im Hinblick darauf prüfen, ob die Beziehung zwischen angegebener Diagnose und abgerechneter Leistung den dafür bestehenden Maßstäben entspricht. Auch diese Folgen wären jedenfalls praktisch irreversibel.
c) Bei der Beurteilung und Abwägung der Folgen wiegen die Folgen im Falle einer Ablehnung des Antrags weniger schwer als die Folgen eines Anordnungserlasses. Hierbei fällt ins Gewicht, daß damit der Zustand beibehalten wird, der nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung auch vor Inkrafttreten der angegriffenen Bestimmungen bestanden hat. Im übrigen ist anzunehmen, daß bei einer Aussetzung der Pflicht zur Angabe der Diagnose die Erfüllung der Aufgaben der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen in erheblicher Weise beeinträchtigt würde. Demgegenüber werden die Möglichkeiten der Kenntnisnahme, Verarbeitung und Verwendung der Diagnoseangaben sowie die Mißbrauchsgefahren durch die Regelungen des Sozialgesetzbuches jedenfalls so weit eingeschränkt, daß die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes nicht gerechtfertigt ist.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Seidl | Grimm | Haas |